Zur Differenz zwischen Bedürfnissen und Begehrungen.
Wir Menschen sind bedürftig, wie alle Lebewesen auch. Wir bedürfen der sauberen Luft zum Atmen, des reinen Wassers zum Trinken, der möglichst naturbelassenen Nahrung. Wir bedürfen der Fürsorge durch den Anderen in einer guten Gemeinschaft. Wir bedürfen der freundschaftlichen Gespräche und der unsere Existenz tragenden Liebe. Wir bedürfen des Wechsels von Anspannung und Entspannung. Wir bedürfen einer inneren Gelassenheit, wenn unser Leben gelingen soll.
Sind Begehrungen berechtigt?
Demgegenüber begehren wir vielerlei, was wir für ein gelingendes Leben gar nicht brauchen, denn nicht jedes Begehren entspricht einem Bedürfen. Das Kind bedarf des Schlafes; es begehrt aber die Fernsehsendung zu später Stunde. Wir Erwachsenen begehren in unserer luxusorientierten Konsumgesellschaft das schöne große Haus, die prestigeträchtige Zweitwohnung, den teuren repräsentativen Wagen, die aufwändigen Partys, die glamourösen Ess-Events, und wir begehren möglichst viele Urlaube an exklusiven Orten.
Innere Gelassenheit und Glückseligkeit
In der sokratisch-platonischen Tradition bedeutete es „Ruhe der Seele“, eine Art „philosophischer Gelassenheit“, eine „wissende Gelöstheit“, aus der heraus man nicht alles haben muss. Im Deutschen wird das altgriechische Wort „Eudämonie“ mit dem auslegungsbedürftigen Begriff „Glückseligkeit“ wiedergegeben. Versuchen wir, die gemeinte Sache zu verstehen. Um all die Begehrungen befriedigen zu können, die wir gelernt haben in der Konsumgesellschaft anzustreben, müssen wir viel leisten. Wir müssen dafür hart arbeiten. Wir kommen deshalb immer mehr unter Druck, wir erleiden negativen Stress. Wir begehren also Dinge, die nur durch ein überfordernd arbeitsames, hektisches, stressreiches, ruheloses Leben zu haben sind. Wenn wir uns die Daumenschrauben der Leistungsgesellschaft fest genug haben andrehen lassen, gelingt plötzlich unser Leben nicht mehr. Wir haben unserer Seele die Ruhe geraubt. Wir haben unbesonnen gelebt. Wir werden Opfer des Burn-out-Syndroms, wir werden in vielfältigen Weisen physisch und psychisch krank. Die Begehrungen haben uns die Eudämonie, die Glückseligkeit genommen. Unser Leben gelingt nicht mehr, es scheitert. Begehrungen, die uns der Eudämonie berauben, sind also nicht berechtigt.
Und was wird im außengeleiteten materiellen Lebensstil noch übersehen? Der Widerfahrnischarakter des menschlichen Lebens.
Widerfahrnisse sind Ereignisse, die nicht in unserer menschlichen Macht liegen. Das sind nicht selbst verschuldete Krankheiten genau so wie unvorhergesehene positive Begegnungen oder uns niederzwingende Schicksalsschläge. Das größte Widerfahrnis, dem wir ausgesetzt sind, ist der Tod. Wir Menschen sind sterblich. Dieses Faktum widerstreitet mit unserer modernen Einstellung, ein mangelloses Leben führen zu wollen. Widerfahrnisse werden von uns als Mangel erlebt. Widerfahrnisse blenden wir deshalb angstbesetzt aus, auch den Tod. Stattdessen begreifen wir uns als souveräne Erfolgsmenschen, die ihr Leben wie ein Herrscher führen wollen: in jeder Hinsicht versichert, abgesichert, erfolgreich handelnd und bedenkenlos genießend. Wir wollen alles im Griff haben.
Krankmachende Überforderungen
Wer sich jedoch unreflektiert von nie endenden Begehrungen verführen lässt, und wer die Widerfahrnisse des menschlichen Lebens verdrängt und ausblendet, der manövriert sich in krankmachende Überforderungen, die in der Selbstentfremdung enden. Das Burn-out-Syndrom ist Ausdruck solcher Entfremdungsprozesse und Überforderungen.
Gibt es Wege aus diesem letztlich zerstörerischen Lebensstil?
Um hier zu antworten, verändern wir probehalber einmal die Fragestellung. Wir fragen nicht länger, wie wir heute leben sollen, nämlich erfolgreich in der ökonomischen Leistungsgesellschaft. Stattdessen fragen wir, wie wir heute auch leben könnten. Eine Antwort wäre dann: Wir könnten ganzheitlich im Kosmos leben, der mehr ist als eine nur ökonomisch auf Gewinn und Verlust getrimmte Welt.
Ein gelingendes Leben
In diesem Falle streben wir nicht vorrangig nach quantitativem ( Wirtschafts- )Wachstum, sondern nach einem gelingenden Leben. Gelingend ist dieses andere Leben deshalb, weil es uns nicht in die krankmachenden Überforderungen bis hin zum Burn-out treibt. Dann ist unser Leitbild nicht länger das vollkommen mangellose und völlig abgesicherte Leben, sondern die Preisgabe dieser eigenmächtigen Selbstbefangenheit im rein ökonomischen Horizont. Wir vermögen durch eine solche Preisgabe die uns peinigende Angst zu überwinden und werden anthropologisch frei, aus einer Leben fördernden und Leben erhaltenden Liebe zu leben. Diese Liebe hieß antik-philosophisch Agape, christlich Caritas. Voraussetzung für ein solches Leben aus dem Ursprung der Liebe ist, dass wir lernen, die Begehrungen, die uns der Eudämonie berauben, fallen zu lassen. Konkret bedeutet das, dass wir uns beispielsweise nicht länger auf die Leben zerstörende Warenwelt unsrer Konsumgesellschaft versteifen, also den künstlich in uns erzeugten Begehrungen folgen, sondern frei werden, Güter zu entdecken und Erfahrungen zu machen, die wir im alten Leben bisher übersahen, dass wir uns also Leben fördernden und Leben erhaltenden Bedürfnissen anvertrauen. In der Konsum- und Warenwelt, so sahen wir, begehren wir ein Haben-orientiertes hektisches Leben, bis zur physischen und psychischen Zerstörung unserer Person, in Wahrheit sind wir aber, antik-philosophisch gesprochen, der „inneren Ruhe“ bedürftig, die keine individuellen Miseren und kollektiven Katastrophen zur Folge hat. Wir können also lernen, loszulassen. Und in diesem Loslassen machen wir die Erfahrung der Gelöstheit. Gelöstheit ist das Loslassen-Können von allem, das uns durch Begehrungen bindet. In anderen Worten: Die Überwindung der uns zerstörenden Begehrungen wird anschaulich durch eine doppelte Abkehr; wir befreien uns von den Strebungen nach bedingungsloser Lebens-Sicherheit und wir befreien uns von den Strebungen nach bedingungslosem Lebens-Genuss.
Grundbefindlichkeit der Angst
Wer noch aus der Grundbefindlichkeit der Angst lebt, wer das bedingungslose Streben nach Daseins-Sicherheit und Daseins-Genuss als beherrschendes Leitbild verinnerlicht hat, legt jetzt Protest ein. Lebens-Sicherheit und Lebens-Genuss als Leitbilder infrage zu stellen, beschwört bei ihm noch mehr Angst herauf. Er kann ein solches Ansinnen nur als asketischen Verzicht denken. Verzicht ist für ihn Mangel, und Mangel erträgt er ja nicht, wie wir sahen.
Loslassen - das Zauberwort
Der dominant erfolgsorientierte Leistungsmensch gerät in Panik. Folglich will er nicht und kann er nicht, was ihn retten könnte: loslassen. Im Wagnis des Loslassens können wir eine qualitativ ganz neuartige Wert-Erfahrung machen, die uns befreit vom Zwang, Sicherheit und Genuss als ausschließliche Lebensziele zu akzeptieren. Wir erfahren in dieser neuartigen Wert-Erfahrung, dass es prinzipiell keine absolute Sicherheit in dieser Welt gibt. Angesichts des Widerfahrnischarakters des menschlichen Lebens kommen wir zur Einsicht, dass der Versuch, sich bedingungslos abzusichern, unvernünftig ist. Ebenso unvernünftig ist es, sich unbegrenzt den Begehrungen des immer größeren Lebensgenusses auszusetzen. Solche Begehrungen kommen nämlich nie zur Ruhe. Je mehr er hat, je mehr er will, nie stehen seine Sorgen still, sagt schon ein Sprichwort. Es ist also eine gefährliche Illusion, sich das Leben als völlig abgesichert und mangellos vorzustellen. Indem wir diese Illusion verabschieden, indem wir lernen, die damit verbundenen Begehrungen loszulassen, erfahren wir, dass die Preisgabe dieser Illusion gar kein asketischer Verzicht ist, im Gegenteil. Erst diese Preisgabe wird zur Bedingung der Möglichkeit eines wahrhaft gelingenden Lebens. Wir sind jetzt nicht mehr die angstmotivierten, machtförmig handelnden Haben-Menschen, die nur egoistisch um sich selbst kreisen. Wir erfahren durch die Preisgabe jene innere Ruhe, jene Gelöstheit und Gelassenheit, die es uns ermöglicht, auch aufmerkend und dankend hinzunehmen.
Originalartikel
http://www.haus-des-verstehens.ch/component/content/article/3-ergaenzungstexte-1/130-geloestheit-als-grundlage-gelingenden-lebens.html